Wie der Nahverkehr das Ruhrgebiet verbinden und verändern kann

Mal wieder im Stau auf der A40 stehen – für viele Menschen im Ruhrgebiet gehört das zu ihrer täglichen Realität. Auch wenn viele Staurouten seit Jahrzehnten bekannt sind, steigen immer noch sehr viele Menschen lieber in ihr Auto, als den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) zu nutzen. Doch warum ist das so? Und was muss sich verändern, damit der Bus, die Straßenbahn, der Zug oder das Fahrrad zu einer echten Alternative werden? Wir haben dazu mit Stefan Kuczera gesprochen, der sich als Beigeordneter im Bereich Planung beim Regionalverband Ruhr (RVR) mit diesem Thema beschäftigt. Gemeinsam mit kommunalen Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplanern aus dem Ruhrgebiet arbeiten er und sein Team daran, den städteübergreifenden ÖPNV zu verbessern. Im Interview spricht er über Herausforderungen, Hindernisse und Pläne für die Zukunft des Nahverkehrs, die unsere Stadtbilder verändern könnten.

 

Das Ruhrgebiet ist die Pendler-Hochburg Deutschlands – Was bedeutet das für die Nahverkehrsplanung in der Metropole Ruhr?

Das Ruhrgebiet ist auch deswegen so eine Pendlerregion, weil es in der Metropole Ruhr, wie wir beim Regionalverband Ruhr sagen, eine besondere siedlungsgeografische Situation gibt: Das Ruhrgebiet ist zwar Deutschlands größter Ballungsraum, aber im Vergleich zu anderen hochverdichteten Metropolregionen, wie beispielsweise Paris, ist die Metropole Ruhr relativ dünn besiedelt.

Das bedeutet, dass die Wege der Menschen innerhalb unserer Region verhältnismäßig lang sind. Das betrifft vor allem die Wege vom Wohnort zum Arbeitsplatz. Es gibt hier also große Pendlerdistanzen, die zurückgelegt werden müssen. Hinzu kommt, dass die Pendelwege im Ruhrgebiet sehr zerstreut sind. Traditionell verlaufen diese Strecken in Metropolregionen vom suburbanen Raum außerhalb der Stadt bis ins Zentrum und zurück. Im Ruhrgebiet ist die Situation komplexer: Es ist normal, dass Personen beispielsweise von einem Stadtteil in Bottrop in einen Stadtteil von Gelsenkirchen pendeln oder vom Stadtzentrum in Dortmund in ein Gewerbegebiet in Unna fahren. Hinzu kommen dann noch die innerstädtischen Pendlerströme. Unterm Strich gibt es also ganz muntere und völlig durcheinander und quergehende Pendelverflechtungen.

Das ist eine große Herausforderung für die Verkehrsinfrastruktur und für den öffentlichen Personennahverkehr. In der Metropole Ruhr muss ein bedarfsgerechter ÖPNV nicht nur die Strecken vom Zentrum zum Stadtrand abdecken, sondern viele städte- und stadtteilübergreifende Strecken bedienen. Das ist für den ÖPNV mit seinen sogenannten großen „Gefäßen“* traditionell herausfordernd. Hinzu kommt, dass auf den Querverbindungen weniger Auslastung herrscht, da weniger dichtbesiedelte Stadtteile oder Gebiete verbunden werden müssen. Dadurch wird es vergleichsweise teurer, den ÖPNV zur Verfügung zu stellen. Oder er muss in einer geringeren Taktung eingesetzt werden. Wenn der Bus aber beispielsweise nur einmal in der Stunde fährt, ist er für Nutzerinnen und Nutzer als Alternative zum Auto kaum attraktiv. Diese geografische Schwierigkeit trifft dann auf die finanziell schwierige Lage der Ruhrgebietskommunen, die den ÖPNV in unserem heutigen System maßgeblich finanzieren.

„Das Ruhrgebiet ist zwar Deutschlands größter Ballungsraum, aber im Vergleich zu anderen hochverdichteten Metropolregionen, wie beispielsweise Paris, ist die Metropole Ruhr relativ dünn besiedelt.“

Stefan Kuczera, Beigeordneter beim Regionalverband Ruhr (RVR)

Im Ruhrgebiet zählt das Auto für die meisten Menschen noch immer zu den beliebtesten Verkehrsmitteln. Was muss sich ändern, damit mehr Leute den öffentlichen Nahverkehr nutzen?

Es muss wahrscheinlich beides passieren: Der öffentliche Personennahverkehr muss attraktiver und die Nutzung des Autos muss unattraktiver werden.

Wir brauchen einen öffentlichen Personennahverkehr, der vor allem städteübergreifende Verbindungen stärker mitdenkt und mehr Direktverbindungen anbietet, als immer nur zuerst über den nächsten, eigenen städtischen Hauptbahnhof zu fahren. Dafür haben wir beim Regionalverband Ruhr gerade mit dem Verkehrsverbund Rhein-Ruhr (VRR) und den kommunalen Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplanern aus der Region das Konzept „Mobilitätsimpuls.RUHR 2023“ erarbeitet, das erste Teilerfolge erzielt: Insgesamt haben wir 28 interkommunale Verbindungen mit großen Schwachstellen identifiziert, die wir für die Menschen verbessern und ausbauen möchten. Bei der Realisierung dieser Pilotprojekte sind wir allerdings auf die Unterstützung der Landesregierung angewiesen, da die Städte die Kosten nicht allein tragen können.

Außerdem brauchen wir aus meiner Sicht eine Drittnutzerfinanzierung, also eine Finanzierung vom ÖPNV durch zum Beispiel Unternehmen, die davon profitieren, dass ihre Beschäftigten mit dem öffentlichen Personennahverkehr anreisen können. Wir müssen aber auch eine Lenkungswirkung erzielen, indem wir Abgaben und Kostenerhöhungen im Bereich des Individualverkehrs – beispielsweise die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung – zielgerichtet einsetzen, um damit öffentlichen Personennahverkehr zu kofinanzieren.

Grundsätzlich muss man sagen, dass die Automobilität in unserer Regionalkultur eine ziemlich große Rolle spielt, was sich vor allem in unseren Stadtbildern widerspiegelt. Das Ruhrgebiet ist im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und – weit mehr als in vielen anderen Regionen in Deutschland – unter dem Leitbild der autogerechten Stadt wieder aufgebaut worden. Das sieht man in einer Stadt wie Essen besonders intensiv. Die Innenstadt ist ja quasi umzingelt von vier- oder mehrspurigen Straßen für den Autoverkehr, als Fußgänger muss man riesige Verkehrsplätze und Kreuzungen überqueren. Es gibt kaum irgendwo so einschneidende innerstädtische Autobahnen wie im Ruhrgebiet – was leider auch die Gesundheit und Lebensqualität der Menschen, die dort leben, stark beeinträchtigt.

Damit sich diese Situation in den Städten ändert, müssen wir unsere gebaute Infrastruktur stärker auf andere Verkehrsträger ausrichten. Es nützt den Menschen nicht viel, wenn wir breite Fahrradwege im Grünen bauen, wir ihnen aber keine Fläche im täglichen Stadtverkehr einräumen. Wir müssen darüber Debatten führen, wie wir vorhandene Verkehrsflächen besser verteilen. Das ist aber auch ein heikles Thema, da es dafür auch gesellschaftlichen Zuspruch braucht. Sobald Menschen durch eine Umverteilung von Verkehrsfläche mit ihrem Auto länger für ihren Anfahrtsweg brauchen oder länger an einer Ampel stehen bleiben müssen, findet sich für diese Vorhaben häufig nicht mehr so viel Applaus.

Was ist Ihre Vision für den Nahverkehr der Zukunft in der Metropole Ruhr?

Der Nahverkehr der Zukunft muss vor allem digitaler und inklusiver werden – also attraktiv für die breite Gesellschaft.

Im Bereich der Digitalisierung müssen wir neben der Vernetzung und einem besserem Online-Angebot in der Breite auch auf autonomes Fahren setzen. Der ÖPNV leidet enorm unter dem Fachkräftemangel, der in den nächsten Jahren durch den demografischen Wandel noch verschärft wird. Mit Hilfe digitaler Abläufe und Prozesse können wir den heute sehr personalintensiven Nahverkehr entlasten.

Wichtig ist auch, dass der Öffentliche Nahverkehr gesellschaftlich eine breitere Akzeptanz findet und attraktivere Angebote schafft. Dann wären auch mehr Menschen bereit, für einen gut funktionierenden ÖPNV zu bezahlen. Hinzu kommt, dass der Personennahverkehr zukünftig zuverlässiger werden muss.

Darüber hinaus möchten Menschen eine akzeptable, komfortable und sichere Fortbewegungsmöglichkeit. Man erlebt an den Bahnhöfen und Haltestellen aber massive Verschmutzungen und unglaubliche Instandhaltungsrückstände, die abstoßend wirken. Man hat als Nutzerin oder Nutzer des ÖPNV leider an vielen Orten den Eindruck eines Systems, das sich selber gerade aufgibt. Und das ist ein riesiges Problem, weil wir eine Mobilitätswende nicht dann hinkriegen, wenn am Ende nur die Menschen ÖPNV nutzen, die sich Individualmobilität nicht leisten können. Leistungsfähiger, vernetzter und attraktiver ÖPNV im Metropolregionen ist auf keinen Fall reiner „Prekariatsverkehr“, sondern umweltfreundliche Mobilität für alle.

„Man hat als Nutzerin oder Nutzer des ÖPNV leider an vielen Orten den Eindruck eines Systems, das sich selber gerade aufgibt.“

Stefan Kuczera, Beigeordneter beim Regionalverband Ruhr (RVR)

Die Bemühungen, die verschiedenen Verkehrsgesellschaften des Ruhrgebiets zu vereinen und zu vereinheitlichen, sind bis jetzt gescheitert – Warum können sich die verschiedenen Ruhrgebietskommunen nicht einigen und wie kann man das „Leuchtturmdenken“ umgehen?

Grundsätzlich sehe ich, dass die Kommunen in den letzten Jahren einen immer größeren Fokus auf das Thema Nahverkehr legen. Es gibt einen großen Problemdruck und eine hohe politische und gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Probleme. Ich möchte da die Kommunalpolitik ganz deutlich verteidigen, da es wirklich viele Bemühungen an vielen Stellen gibt, um enger und besser zusammenzuarbeiten. Ein Beispiel ist das derzeit diskutierte Projekt „Auftakt Ruhr“, bei dem BOGESTRA und Ruhrbahn zusammenarbeiten, um den Nahverkehr in Bochum, Gelsenkirchen, Essen und Mülheim zu verbessern.

Ich würde davor warnen zu behaupten, dass es das größte Problem des ÖPNV ist, dass es so viele zersplitterte Verkehrsunternehmen gibt. Gerade dieses Lied wird im Ruhrgebiet relativ häufig gesungen. Und es ist auch ein Lied, das man durchaus in Düsseldorf anstimmt, wenn wir sagen, wir brauchen mehr Geld für unseren ÖPNV. Es gibt sehr ambitionierte Vorhaben, die durch das „Klein-Klein“ der administrativen und gesetzlichen Wirklichkeiten erschwert werden. Beispielsweise hängt die Finanzierung stark von kommunalen Querverbünden ab. Oftmals erfolgt die Finanzierung der ÖPNV-Leistungen innerhalb der Stadtverwaltung, zum Beispiel durch Überschüsse städtischer Gesellschaften in den Bereichen Energieerzeugung und Dienstleistungen rund um das Thema Wasser. Wenn wir jedoch den Querverbund über einzelne Kommunen hinaus erweitern möchten, gerät das System in Stress. Dies liegt daran, dass Verkehrsdienstleistungen auf anderen Stadtgebieten mitfinanziert werden müssten, was sowohl rechtlich als auch politisch problematisch ist.

Selbst wenn wir alle bürokratischen Hindernisse aus dem Weg räumen, bleibt die Herausforderung der speziellen Anordnung unserer Städte: Im Ruhrgebiet liegen zahlreiche Städte verstreut und ohne einen zentralen Kern, anders als in Metropolen mit einer Hauptstadtmitte. Aufgrund dieser Lage und der geringen Siedlungsdichte wird der ÖPNV immer teurer sein als in anderen Ballungsräumen. Die klammen Kommunen im Ruhrgebiet können diesen spezifisch teureren ÖPNV aber keinesfalls selbst finanzieren.

Wir beim RVR schlagen deshalb vor, sich von der bisherigen Logik der Finanzierung durch kommunale Haushalte oder Querverbünde soweit es geht zu lösen. Eine mögliche Richtung könnte ein Einstieg in eine ÖPNV-Finanzierung durch das Land anhand siedlungsgeografischer Standards sein, eventuell in Verbindung mit einer umfassenderen Kofinanzierung durch Drittnutzerinnen und Drittnutzer.

Sind wir „Ruhrgebietler“ vielleicht einfach zu verschieden, um einen gemeinsamen Nahverkehr zu haben? Ist das Denken eines gemeinsamen „Reviers“ als Heimat evtl. nur Wunschdenken?

Ich habe schon den Eindruck, dass sich das Ruhrgebiet sehr stark nach mehr Zusammenhalt sehnt und es hier eine große Solidaritätstradition gibt. Öffentlicher Personennahverkehr kann deswegen darauf einzahlen, weil er eben Mobilität für alle bedeutet – egal über welche Mittel man verfügt, ob man eine Behinderung hat oder ob man einen Führerschein besitzt. Gerade auch durch Instrumente wie das Deutschlandticket kann öffentlicher Personennahverkehr unglaublich integrativ wirken. Er muss aber dafür wieder mehr auf die Breite der Gesellschaft abzielen. Das tut er aktuell nicht und das ist ein Problem. Ein gut funktionierender und attraktiver Nahverkehr ist ein Ort, ähnlich wie das Ruhrgebiet selbst, an dem sich die unterschiedlichsten Menschen begegnen – und das ist auch gut so.

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*Unter dem Begriff „große Gefäße“ versteht man im Fachjargon des ÖPNVs große Transportmittel, mit denen viele Menschen von A nach B gefahren werden können.

 

Ein Beitrag von Anna Lea Kopatschek