Verfassungsrichter Peter Müller hatte sich den Verlauf des Abends im Erich-Brost-Pavillon auf Zeche Zollverein genauso gewünscht. „Wir müssen zurück zum Schlagabtausch mit offenem Visier der Demokraten“, forderte der frühere CDU-Politiker aus dem Saarland gleich zu Beginn. Denn eben diese freie Meinungsäußerung decke das Grundgesetz ab. „Aber wir beobachten zunehmend eine Diskrepanz zwischen normativem Recht und Rechtswirklichkeit.“
Damit spannte er den Rahmen für die Diskussion auf dem Podium der Brost-Akademie zwischen ihm, dem Kabarettisten Dieter Nuhr sowie der Journalistin Ulrike Demmer über die Meinungsfreiheit in unserem Land, die laut aktuellen Umfragen 52 Prozent der Deutschen bedroht sehen.
„Ich beobachte eine wachsende Bereitschaft in weiten Teilen der Gesellschaft, die Diskursfreiräume zu verengen.“
Verfassungsrichter Peter Müller
Müller und Nuhr schilderten aus eigenem Erleben eine aktuelle gesellschaftliche Debattenkultur, die andere Meinungen ausgrenze, indem sie den jeweiligen Absender moralisch diskreditiere. „Ich habe in einem Diskussionsbeitrag erläutert, dass wir mit ziemlicher Sicherheit die Klimaziele nicht erreichen werden, was auch die Mehrzahl der Wissenschaftler bestätigt. Umgehend wurde ich als „Klimaleugner“ diskreditiert. So wird eine Auseinandersetzung auf Faktenbasis verhindert“, so Nuhr.
Dieter Nuhr hat man nach eigenem Empfinden schon alle „Etiketten von Ausländerfeindlichkeit, Sympathisant für rechte Politik, Frauenfeind bis Klimaleugner aufgeklebt“. In Bochum wurde ihm sogar ein Kunstpreis nicht überreicht, „weil ich vorher einen Witz über Greta Thunberg gemacht hatte“. Seit Jahren muss er sich mit Beleidigungen und Drohungen nicht nur in den sozialen Netzwerken auseinandersetzen.
„Mir hat in 12 Jahren bei der ARD noch nie jemand vorgeschrieben, was ich tun oder lassen soll.“
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gleichwohl sieht er sich persönlich nicht an der persönlichen Meinungsäußerung gehindert: „Ich habe eine Machtposition durch eine eigene Fernsehshow, die seit 12 Jahren im Ersten läuft. Wäre ich heute ein junger Künstler, hätte ich mit meinem Programm keine Chance mehr, dauerhaft gesendet zu werden. Bei einer Tournee blieben mir sicher viele Theatertüren verschlossen.“
Die ehemalige Regierungssprecherin Ulrike Demmer drängte im Gespräch auf Klarheit der Begrifflichkeiten, sie sehe keine organisierte Unterdrückung nicht gewünschter Meinungen in den Medien.
„Wie kann man eine Debattenkultur haben, wenn sie gar nicht geführt wird“, so Nuhr. „Wir haben in Deutschland zum Beispiel ein Migrationsproblem, das beginnt bei Transferleistungen und berührt unter anderem die Frage der Frauenrolle vor dem Hintergrund muslimischer Zuwanderung. Aber diese Debatte wird in der Öffentlichkeit nicht geführt.“ Daraus entstehe, so Müller, ein diffuses Unbehagen bei den Menschen, die sich von der Politik nicht mehr mitgenommen fühlten. Mit der Folge, dass die AfD im aktuellen Deutschlandtrend gleichauf mit der SPD liegt. „Statt sich inhaltlich mit dieser Entwicklung auseinanderzusetzen, werfen sich Regierung und Opposition wechselseitig vor, für den Rechtsruck verantwortlich zu sein.“ Der Angriff auf Personen werde zunehmend genutzt, um von der Sachdebatte abzulenken.
Zum Abschluss belegte ein Beitrag aus dem Publikum die Wichtigkeit und Sinnhaftigkeit der Veranstaltung, die das Ziel verfolgte, den Austausch von Argumenten und die Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen zu fördern. Ein Zuhörer, beruflich im Bereich der politischen Bildung unterwegs, erinnerte an die Aufregung um einen Vortrag der Biologin Marie-Luise Vollbrecht, die wissenschaftlich die These von nur zwei biologischen Geschlechtern vor Studenten erläutern wollte. Der Vortrag fiel aus, weil die Humboldt-Universität nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren konnte, nachdem unter anderem der Genderbeauftrage der Bundesregierung, Sven Lehmann (Grüne), die Wissenschaftlerin attackiert hatte. „Ich hätte die Biologin gerne zur Diskussion mit jungen Menschen eingeladen, aber mir war klar, dass ich die öffentliche Diskussion nicht durchstehen konnte.“
Übrigens: In einer Abstimmung per Handzeichen glaubte zu Beginn des Abends weit über die Hälfte der Besucher, ihre Meinung jederzeit frei äußern zu können. Am Ende der Diskussion war das Votum sogar noch eindeutiger…
Verehrte Gäste jedweden selbst definierten Geschlechtes,
Sie hörten: Ich stelle mich unserem Thema. Die DIN 5008 (es gibt sie wirklich) legt noch keine endgültige Form der angemessenen Anrede fest. Sternchen sind möglich. Man soll sich den Angesprochenen anpassen und die weitere Entwicklung abwarten. Das klingt vorsichtig, abwägend. Im Gehörgang von Genderist*innen echot es reaktionär.
Duden-Ratgeber wollen Kollisionen vorbeugen. Beim Erstkontakt
empfehlen sie als „Verhütungsmittel“ die Frage: „Was ist ihr Pronomen?“
(Das gute alte persönliche Fürwort). Duden-Sprachschöpfer lassen die
Leinen los. Statt: „Die Ärzte in Deutschland sind gut ausgebildet“,
empfehlen sie: „Menschen aller Geschlechter mit der entsprechenden
medizinischen Ausbildung“. Das generische Maskulinum soll ich umgehen.
„Liebe Zuhörende“ hätte ich sagen sollen. Mitdenkende und Mitredende
sind mir aber lieber.
Googeln Sie „gendergerechte Anrede“. Sie werden
originell unterhalten sein. Es gibt Wörter … es gibt Un-Wörter.
Revitalisierung von Demokratie klappt so nicht. Wenn man etwas nicht
sagen soll, bedeutet das: Es gibt erwünschten und verordneten Sprech.
Der demonstriert erwünschte Haltung. Die wird befördert, unerwünschte
wird denunziert.
Demokratische Öffentlichkeit funktioniert so nicht. Die Gedanken sind
frei. Man kann sie jedoch formen, um-formen, ver-formen. Warum? Wozu?
Haltung prägt Handlung. Handlung gestaltet Wirklichkeit. Wer über die
Sprache der Leute verfügt, verfügt über ihre Welt.
Das Allermeiste in
unserem Kopf ist Sekundärerfahrung. Sprachlich und medial vermittelt.
Ein enormes Einfallstor für schlechte Einfälle und böse Absichten. Den
„Volksempfänger“ haben wir in der Tasche. Der ist zugleich Sender. Der
kann Dumm- und Gemeinheiten verstreuen. Verbale Trommelfeuer stressen
und erzeugen Gereiztheit. Die neigt zur Eruption. Kaum Substanz in der
Sache, aber bleibende Verletzung im Haushalt der Gefühle.
Wer frei
sein will, muss Worten Freiheit lassen. Sie müssen ein realistisches
Bild unserer Welt zeichnen. Sprache als Lenkungsmittel klammheimlicher
Absichten gilt es zu erkennen. Der hellwache Journalist Gabor Steingart
listete kürzlich Beispiele auf. Ich zitiere: „Schulden sind nicht mehr
Schulden, sondern Sondervermögen. Subventionen sind nicht mehr
Subventionen, sondern Preisbremsen. Lustfeindliche Rigidität ist
Progressivität. Sie sagen Transparenz – und bilden an der Spitze des
Staates Clan-Strukturen aus. Sie berufen sich auf Wissenschaft und
beauftragen ökonomische Laien mit dem Umbau der Industriegesellschaft.“
(Zitat Ende)
Propaganda macht immer nur die Gegenseite. Dass jede
Wahrheit gleich viel wert sein soll, wird dem Nachwuchs eingehämmert.
„Wording“-Profis treten als Apostel der wirklichen Wahrheit auf. Noch
bevor wir wissen, ob das neue Gesetz nützlich ist, heißt es amtlich
„Gutes Kita-Gesetz“.
Wir werden gerade von der Nachkriegszeit in die
Vorkriegszeit politisiert, gesendet und geschrieben. „Zeitenwende“ – Das
politische Barometer steht auf Sturm. Gesinnungsmission statt
Diplomatie. Etliche seufzen: „Wenn das die Lösungen sind, dann hätte ich
gern meine alten Probleme zurück.“ Sprache ist ein wundersames
Werkzeug. Von den ersten Grunzlauten bis zum Rilke-Gedicht: Sie war die
entscheidende Zeitenwende unserer Evolution. Sie ist Voraussetzung
humaner, kultureller und technischer Zivilisation.
„Haben Sie das Gefühl, dass man heute in Deutschland seine politische
Meinung frei sagen kann, oder ist es besser, vorsichtig zu sein?“,
fragt das Orakel von Allensbach seit 1990. Damals sagten 78 % der
Deutschen, sie könnten frei reden. Nur 16 % wollten vorsichtig sein. Bei
der Befragung 2021 glaubten nur noch 45 % sie könnten frei reden. 44 %
meinten, sie müssten vorsichtig sein. 11 % wollten sich gar nicht
äußern. Wer jetzt an Orwell denkt, übertreibt. Seinen Albtraum nannte er
„Wirklichkeitslenkung“.
Wer sich dem „Sprech“ nicht unterwarf,
bewies staatsgefährdende Auflehnung. Skeptische Mimik war als
„Gesichtsdelikt“ strafbar. Orwell beschrieb ein Endstadium. Wir
diskutieren Anfänge. Wenn Sprachpolizei nachhelfen will, kann sie auch
kläglich scheitern. Ein verbanntes Wort kommt vielleicht nicht mehr über
die Lippen, aber es ist in aller Munde. Unzureichend Thematisiertes
verstört. Chronische Diskrepanz zwischen privatem Denken und öffentlich
verordnetem Sprech hinterlässt ein unangenehmes Gefühl. Vielen brennt
das in der Seele. Als Massen-Phänomen fängt es an zu gären. „Faulgase“
werden frei, brennbar, explosiv. Dann fehlt nur noch ein politischer
Pyromane. Das Gefühl „Endlich sagt es mal einer!“ macht ihn zum
Heilsbringer. Dafür darf er anderes nehmen: Die Würde. Die Freiheit.
An
welchen politischen Wiedergänger Sie jetzt denken, ahne ich. Übrigens:
Nicht jedes stille Wasser ist tief. Mancher wundert sich bis zur
Empörung, dass es aus dem Wald so herausschallt, wie er hineingerufen
hat. Wer sich anderen moralisch überlegen fühlt, braucht keine Antenne
für realitätsgedeckte Argumente. Dass der gute Zweck die Mittel heiligt,
ist die DNA des Totalitarismus. Der Kampf um Köpfe ist Kampf um
Aufmerksamkeit. Das mediale Sprachrohr muss lauter als andere tönen. Die
anderen sollen zuhören – basta! Martin Luthers vermeintliche Weisheit
„Eine offensichtliche Lüge ist keine Antwort wert“ hat er selbst
widerlegt.
Wir glauben an den Willen zur eigenen Meinung. Sonst wären wir nicht beisammen. Und wir haben wunderbare Verbündete:
Herr
Peter Müller war Justizminister und Ministerpräsident im Saarland. Seit
2011 ist er Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Dieses
genießt höchstes Vertrauen in der Bevölkerung. Nicht zufällig hassen und
bekämpfen Autokraten zuallererst unabhängige Gerichte und freie Presse.
Unser
Gast Dieter Nuhr ist Meister der geschliffenen Sprache. Er ist
souveräner Freischwimmer gegen den Mainstream öffentlicher
Sprachregelung.
Beide sind – jeder auf seine Weise und an seinem Ort –
Frontkämpfer gegen Verdumpfung und Verdummung. Sie mucken für uns auf,
wenn wir uns vielleicht schon ducken. Sie verweigern falschen Helden –
Entschuldigung – Held*innen den Beifall. Ich bin freudig gespannt auf
Ihre Sicht der Dinge. Ich begrüße sie – auch in ihrem Namen – sehr
herzlich!
Unser Kuratoriumsmitglied Frau Ulrike Demmer ist
hochdekorierte Journalistin. Sie war kürzlich noch stellvertretende
Regierungssprecherin. Sie kann einschlägiges über intentionalen
Journalismus und journalistische Klimakleber berichten. Heute moderiert
sie. Auch ihr dafür herzlichen Dank!
In 90 Minuten werden wir klüger sein, als wir gekommen sind, dafür vorauseilenden Dank.